Wie lange noch Ankara?
Es ging rasch vor sich: In Berlin einigte sich der Deutsche Bundestag auf eine Resolution, deren Tragweite und Bedeutung im ersten Augenblick vielen nicht bewusst ist. Darin verurteilte Deutschland das Massaker an den Armenier öffentlich. Gleichzeitig wurde die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches bedauert, das als militärischer Hauptverbündeter von den Massakern wusste, aber nicht eingriff.
Erstmals ist in der deutschen Geschichte nach den Appellen des evangelischen Pfarrers Johannes Lepsius eine Stimme laut geworden, die die Türkei auffordert, die Verharmlosung und Leugnung der Ereignisse zu beenden. Gleichzeitig forderte der Bundestag die Türkei auf, die Vertreibung und die Massaker vor 90 Jahren offen aufzuklären. Die Türkei hingegen zeigt sich wenig geläutert und verurteilt die Resolution ihres besten Europäischen Freundes.
Was aber war passiert? Gehen wir noch einmal zurück: Nach den Unabhängigkeitserklärungen der Balkanvölker im Jahre 1912 und den wachsenden Aufständen in Arabien und Afrika, war das von den Jungtürken regierende Osmanische Reich von weiteren Territorialverlusten in Mesopotamien, Thrazien und in Anatolien gefährdet. Aus dieser Befürchtung heraus zogen die Jungtürken des „Bund für Einheit und Fortschritt“ (Ittihat ve Terraki) den Plan zur ethnischen Säuberung der Christen heran. Die Ideologie der Jungtürken setze sich aus Elementen des Panturkismus, des Panislamismus und des Turanismus (Idee der Einheit aller Turkvölker). Zwischen 1914 und 1923 wurden mehr als 500.000 Suryoye und weitere Millionen Armenier und Pontus-Griechen systematisch massakriert.
Mehr als zweidrittel der Suryoye Gesamtbevölkerung in den Hauptsiedlungsgebieten Nordmesopotamiens und im Iran wurden bis auf Ausnahme von kleinen Bevölkerungsteilen hin dezimiert. Die Deportationen, Verfolgungen und die nachfolgende Hungersnot verursachten ein Elend unvorstellbaren Ausmaßes. Die Klagen der Opfer kamen nie vor einem internationalen Gericht. Es hat keine Aufarbeitung gegeben, kaum internationale Prozesse, keine Verhandlungen um die Schuldfrage oder um Wiedergutmachung. Es entstand nie ein Plädoyer. In geostrategischer Hinsicht wurde die Türkei zu einem Militärpartner im Bündnis gegen die bolschewistische Sowjetunion. Eine festgefahrene Interessenspolitik während und nach dem I. Weltkrieg stärkte die Türkische Position der Rechtfertigung, Bagatellisierung und Polemisierung.
Im türkischen Bewusstsein wird die Verantwortung für die Völkermorde an den Christen vehement abgelehnt. Die Ablehnung der Türkei, den Völkermord anzuerkennen, beruht auf verschiedene Argumente. Im einen auf die Rechtfertigung der Massaker, indem die Verantwortung den Opfern zugeschoben wird und im anderen auf die Bagatellisierung der Vorfälle, indem die Zahl der Opfer drastisch gesenkt und die eigenen Opfer hochgebauscht werden. Die Bezweiflung und Ablehnung der Authentizität von offiziellen Dokumenten, Berichten und anderen Beweismaterialen zwingt die Türkei zur künstlichen Schaffung von Thesen und Beweisarchiven.
Über die Verjährung von internationalen Verbrechen und Völkermorden schreibt die Konvention der Vereinten Nationen (UN) wie folgt: "Vertreibung mit Waffengewalt oder durch Besetzung, unmenschliche Handlungen aus Gründen der Apartheid sowie das Verbrechen des Völkermordes sind einer Nichtanwendbarkeit und Nichtgültigkeit ausgeschlossen!" Internationale Verbrechen, Völkermorde und die Problematik von ethnischen Minderheiten werden gegenwärtig stärker denn je thematisiert. Die relativ jungen Vorfälle auf den Balkan und in Ruanda haben ein neues Licht auf derartige grausame Verbrechen geworfen. Jedes Volk hat heute das Recht, eine Aufklärung für ihr erlittenes Unrecht zu fordern.
Ein Sprichwort besagt: „Ohne Erinnerung holen uns solche Ereignisse ein und machen uns zu ihren Gefangenen.“ Darum so die Schlussfolgerung, kann die Zukunft nur von dem gewonnen werden, der die Vergangenheit nicht verschweigt. Nur mit Verantwortung kann auf eine neue Zukunft gehofft werden. Damit kann ein Zeichen der historischen und moralischen Verantwortung für diese Geschehnisse gesetzt werden. Moderne Gesellschaften stellen sich ihrer Geschichte, egal wie schwer oder dunkel sie ist.
Die Türkei hatte in den Jahren 1919 und 1920 große Schritte getan, die sie vergessen und abgetan hat. Mit den so genannten Unionistenprozessen wurden einige der Urheber öffentlich abgeurteilt für ihre Verbrechen. Es ist bemerkenswertes Ereignis, aber auch gleichzeitig ein vergessenes.
Verantwortung braucht nicht viele Worte und keinen schönen und bunten Rahmen. Da werden Tatsachen beim Namen genannt; Namen, die mit Erinnerungen zusammenhängen. Die aktuelle Türkische Haltung stehe im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der EU leite.
Liebe Politiker in Ankara: Je eher ihr euch eurer Verantwortung stellt, desto schneller wird die Türkei des 21. Jahrhunderts ihren eigenen und richtigen Platz in dieser Europäischen Gemeinschaft finden.
Gabriel Fikri Aziz