Aufruf zu mehr Mut und Selbstbewusstsein!
Am 8. März wird jährlich der internationale Frauentag gefeiert. Die Auswirkungen des Arbeiterinnen-Streiks 1909 auf die Gesellschaft und Politik haben bis heute eine grosse Bedeutung. Doch es bleibt noch viel zu tun bis zum Optimum.
von Elena Jakob, SP-Kantonsrätin
Das vergangene Jahrhundert hat wie keines zuvor die gesellschaftliche Stellung der Frauen vor allem in der westlichen Welt beeinflusst. Die Frauen haben mit unterschiedlichem Erfolg für ihre gesellschaftlichen und politischen Rechte gekämpft. Aber auch Männer haben sich für die Frauen eingesetzt, so etwa August Bebel, der schon vor 100 Jahren im deutschen Reichstag die Meinung vertrat, "dass eine besonders intelligent, energische, geistreiche und gesunde Frau fähig sei, Staatsrat oder sogar Minister zu sein".
In diesem Schreiben geht es mir darum, einmal nicht nur die Sichtweise und Entwicklung der Frauenrechte beim assyrischen Volk aufzuzeigen, sondern den Leserinnen und Lesern auch am Beispiel der Frauenrechte in der Schweiz den Blickwinkel und den Horizont zu erweitern. In der Schweiz wohnen immerhin über 1000 assyrische Familien, die grossteils dann in die Schweiz eingewandert sind, als der grosse Umbruch in der Frauengeschichte der Schweiz stattgefunden hat.
Über die Situation und Entwicklung der Frauenrechte in Europa und vor allem in der Schweiz wissen wir sehr wenig. Deshalb ist es mir ein Anliegen, dies als Beispiel vorzubringen.
Während die Frauen in den meisten europäischen Ländern schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am politischen Leben teilhaben konnten, herrschte in der Schweiz noch lange die Meinung, dass die Frauen "ins Haus" gehörten. Es waren nur ganz wenige Frauen, die eine Aufgabe ausserhalb des Hauses, im Beruf, in der Wissenschaft und im öffentlichen Leben suchten. Diese Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau war in der Regel vorgegeben, nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen.
Erst vor 30 Jahren haben die Schweizer Frauen endlich die politischen Rechte erhalten. Gleich zehn Frauen zogen im Dezember 1972 in den Nationalrat und eine Frau in den Ständerat ein. (Der Nationalrat und der Ständerat sind die zwei Kammern, welche das Schweizer Parlament ausmachen.)
In den letzten 30 Jahren haben die Frauen viel erreicht: vom Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung über das Gleichstellungsgesetz bis zur kontinuierlichen Erhöhung des Frauenanteils in den Behörden auf allen Ebenen des Staates. Von der Parität sind wir aber noch weit entfernt, sowohl in der Politik wie im wirtschaftlichen Leben.
Herausforderungen für die Zukunft
Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre gilt es auch, nicht auf den Lorbeeren auszuruhen und sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Die Mitwirkung der Frauen braucht es in der Politik, in der Wirtschaft wie auch in Gesellschaft und Familie. Dies ist nicht nur für die Schweizer Frauen gültig, sondern auch für alle Frauen weltweit.
Die Frauen sind heute im Allgemeinen ebenso gut ausgebildet wie die Männer. Ihr Potential ist auf dem Arbeitsmarkt gefragt und wird es in der Zukunft vermehrt sein. Es ist aber auch nach wie vor wichtig, dass die Frauen in der Familie und in der Kindererziehung eine starke Stellung einnehmen. Die Veränderung der Familienformen und der gesellschaftlichen Beziehungen, die auf individuelle Entfaltung ausgerichteten Lebensformen sind eine latente Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die immer kleiner werdenden Familie und die Geborgenheit in der Familie.
Der Alltag der Familienmitglieder findet nicht mehr an einem gemeinsamen Ort statt und die unterschiedlichen zeitlichen Bedürfnisse führen vor allem für die Frauen zu einer Akrobatik des "Sichabstimmens". Hier ist Handlungsbedarf gegeben, vor allem wenn wir wollen, dass die Frauen aktiv am Wirtschafts- und politischen Leben teilnehmen - und dazu sind alle Frauen aufzufordern.
Plädoyer für mehr Frauen in der Politik
Obwohl die Frauen in der Schweiz in den letzten 30 Jahren viel erreicht haben und ihre Stellung in der Politik anerkannt ist, ist es doch Tatsache, dass es viel zu wenige Frauen in politischen Ämtern gibt. Und das in einem Land, das sich sehr ,modern' und demokratisch bezeichnet.
Gefordert sind nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die Frauenorganisationen. Die Forderung nach mehr Frauen in der Politik richtet sich aber vor allem an die Frauen selbst. Frauen dürfen nicht mehr warten, bis sie jemand anfragt, ob sie für ein Amt kandidieren wollen. Nein, sie sollten sich aktiv bei den Parteien melden und in ihrem Umfeld um Unterstützung werben. Frauen müssen das selbstbewusster tun.
Voraussetzung ist nicht nur ein Interesse an der Politik, sondern auch die Fähigkeit, Kritik und Niederlagen einzustecken. Das Interesse an der Politik wecken und interessierte Frauen für den politischen "Kampf" auszurüsten sollte unser aller Anliegen sein. Wir müssen Netzwerke schaffen, in denen die Frauen Erfahrungen sammeln und austauschen können.
Die Solidarität unter den Frauen ist nicht eine Selbstverständlichkeit. Es wäre aber schön, wenn sie sich - trotz unterschiedlicher Meinung zu Sachfragen - gemeinsam für die Stärkung der Position und des Engagements der Frauen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik einsetzen würden.
Als gutes Beispiel ist hier die assyrische Frauenorganisation HNHB zu erwähnen, die anlässlich des internationalen Frauentags am 12. März 2005 in der Schweiz ein Fest organisiert hat und sich für die Anliegen der Frauen aktiv engagieren. Ein grosses Lob an die Organisatorinnen und allen Helfern zum gelungenen Fest!
Gemeinschaftssinn, Respekt und Toleranz
In unserer heutigen, von Konsum und Verwirklichung individueller Bedürfnisse geprägten Welt scheint eine weitere Forderung nötig: Die Forderung nach Gemeinschaftssinn, Respekt und Toleranz.
"Gemeinschaft ohne Gesellschaft ist möglich, Gesellschaft ohne Gemeinschaft aber nicht" hat Edith Stein zu Recht gesagt. (Sie wurde vor 60 Jahren in Auschwitz von den Nazis ermordet, obwohl sie zum Christentum konvertiert war.)
Respekt kennt keine Vorurteile. Vorurteile sind Etiketten, mit denen wir andere Menschen auf Distanz halten. Sie negieren den anderen mit eben dem, was ihn ganz persönlich ausmacht. Das gilt auch - und vor allem - für die Politik. Zu Respekt gehört auch Toleranz gegenüber dem Anderen, sei es nun das andere Geschlecht, die andere Rasse, die andere Kultur oder die andere Religion.
Die grosse Verantwortung liegt jedoch bei der Politik, und zwar auf allen Ebenen des Staates. Der Staat muss den Dialog zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen fördern und die Integration in allen Bereichen sicherstellen. Dazu bietet unsere Schweizer Demokratie wertvolle Instrumente. Sie ermöglicht den notwendigen kontinuierlichen Dialog zu den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Fragen. Auch deshalb ist eine aktive Beteiligung der Frauen unerlässlich.
Ich möchte alle Frauen dazu aufrufen, bewusst, tatkräftig und namensgebend an unserer Zukunft mitzuwirken. Vor allem die assyrischen Frauen haben das Potenzial, sich stärker und engagierter weiter zu entwickeln und die künftige Geschichte des assyrischen Volkes zu prägen. Unsere Vorfahren wie die Königinnen Semiramis und Ornina haben uns vorgeführt, dass auch wir Frauen das Selbstbewusstsein haben, ganze Völker und Staaten zu führen. Dies beweist auch der volkstümliche Spruch, der in der westlichen Welt immer öfter zu hören ist: "Hinter jedem starken Mann steckt eine stärkere Frau".
CH-Buttikon, 12. März 2005