"Diese Aufgabe ist eine enorme Herausforderung"
Interview mit Ibrahim Baylan - Regierungskabinettmitglied in Schweden
Der schwedische Premierminister Goran Persson präsentierte am Donnerstag, den 21.10.2004, seine neue Mannschaft. Für Aufsehen sorgte insbesondere die Ernennung des 32 Jahre alten Ibrahim Baylan zum Schulminister. Erstmals bekleidet ein außereuropäischer Zuwanderer einen Regierungsposten. Persson sprach Baylan während der Pressekonferenz sein Vertrauen aus, indem er sagte: "Es gibt hohe Erwartungen an den ersten Minister, der als Einwanderer ins Land kam, aber wir unterstützen ihn wie es für Freunde üblich ist." Er wies ferner darauf hin, dass der der neue Minister definitiv nicht nur berufen wurde, weil er Immigrant ist. Auf die Frage über seine nationale Zugehörigkeit antwortete Baylan direkt: "Ich gehöre der Assyrisch/Syrischen (Suryoye) Minderheit an".
Qenneshrin besuchte den neuen Schulminister im Bildungs- und Kultusministerium in Stockholm, einerseits um ihn zu der Ernennung zu gratulieren und anderseits um sich über einige Aspekte zu unterhalten!
Kurze Biographie:
Ibrahim Baylan wurde 1972 in Saleh, in der Südosttürkei (Turabdin) geboren. Er besuchte das dortige Kloster Mar Yahkub, wo er u.a. die Aramäische Sprache erlernte. Vor dem Hintergrund des Militärputsches und der verstärkten Konflikte in der Region, emigrierte er im Winter 1981/1982 nach Schweden. Kurze Zeit später musste er sich einer schweren Herzoperation unterziehen. Nach der Ableistung des Militärdienstes ließ er sich an der Universität von Umeå einschreiben, um Staatswissenschaften und Nationalökonomie zu studieren. Hier war er 1997/98 als Vorsitzender der sozialdemokratischen Studenten Union aktiv; von 1997 bis 2001 war er Vorstandsmitglied der Jungsozialdemokraten (SSU). Baylan engagierte sich lokalpolitisch im Rahmen von sozialen und politischen Projekten mit dem Schwerpunkt Schulpolitik. Als Kandidat der Sozialdemokraten bei den Wahlen 2002 für das Schwedische Parlament und 2004 für das Europäische Parlament scheiterte er knapp. Am 21. Oktober letzten Jahres wurde er zum Schul- und Bildungsminister ernannt!
Qenneshrin: Bevor wir mit unserem Interview beginnen, wollen wir Ihnen im Namen unserer Zeitung Qenneshrin gratulieren. Sie sind in einem Land mit 12% Immigrantenanteil eine hohe Repräsentationsfigur! Als erster Politiker und Minister mit Immigrationshintergrund sind hohe Erwartungen gestellt. Vor allem als Suryoyo, der sich an der Spitze der Politik etabliert hat, haben sie bei vielen große Hoffungen ausgelöst! In diesem Zusammenhang auch unsere erste Frage: Warum haben sie die Notwendigkeit gesehen, politisch aktiv zu werden?
Ibrahim Baylan: Da gab es zwei wesentliche Motive: Einerseits war es mir persönlich klar, dass dieses Land hier meine Heimat ist, denn Gedanken an eine Rückkehr in den Turabdin gab es nicht! Andererseits sah, spürte und wusste man, dass in der Politik Beschlüsse gefasst und Gesetze gemacht werden, die das gesellschaftliche Leben prägen, leiten und beeinflussen und für alle gültig sind, für Schweden wie auch für Immigranten. Einmal verfolgte ich im Fernsehen eine Parlamentsdebatte über Rechtsextremismus und Ausländer. Schon als kleines Kind hatte ich gespürt, dass Menschen nicht gleichbehandelt werden. Beispielsweise werden einige aufgrund ihres Herkunftshintergrunds in Sektoren des Arbeitsmarktes benachteiligt. Das ärgerte mich und mir gingen dabei einige Fragen durch den Kopf: Kommt es in der Politik auf die Haarfarbe an, oder sind Ideen, Innovation und Kompetenz voranging? Deshalb entschied ich mich, an der Gesellschaftsgestaltung teilzunehmen. Ich wollte etwas Produktives und Sinnvolles leisten und das ging nur über den Weg der Politik!
Warum bei den Sozialdemokraten?
Ich bin von der Türkei in ein kontrastreiches Land gekommen, welches seinen Bürgern soziale und politische Rechte gewährt. Hier hat niemand nach meiner Herkunft, Religion und Konfession gefragt. Vor allem die kostenaufwendige Herzoperation, die ich hier erhalten habe, hat meine Einstellung geprägt. Und das Sozialstaatliche Sicherungssystem ist das Modell der Sozialdemokraten. Daher habe ich mich für die Sozialdemokarten entschieden.
Wie haben sie von ihrer Ernennung zum Schulminister erfahren?
Vor der Vorstellung des Kabinetts gab es viele Diskussionen und Spekulationen. Ich jedenfalls habe in dieser turbulenten Zeit eine E-Mail erhalten. Darin wurde ich gebeten, das Ministerium zu kontaktieren. Zunächst hielt ich es für einen Scherz, denn ich habe Freunde im Ministerium und so dachte ich spontan, dass sie sich auf meine Kosten ihren Spaß machen wollten. Dort aber erfuhr ich, dass mich der Premierminister am nächsten Abend treffen möchte. Am nächsten Tage kam es zu einem 1 ½ Stunden langen Zusammentreffen. Nach langem Hin und Her von Fragen und Antworten sprach ich ihn auf seine Intension an. Die Antwort war kurz und klar: Ich will sie in meinem neuen Kabinett haben!
Was ging ihnen in diesem Augenblick durch den Kopf?
Ich war auf so ein Angebot nicht vorbreitet gewesen. Ich ließ die Vergangenheit Revue passieren: Nach 10 Jahren in der Politik und zudem als Immigrant war es eine einzigartige Gelegenheit. Auch das Arbeitsfeld war unglaublich interessant und eine enorme Herausforderung für mich! Ich wollt es versuchen! Sollte es klappen, dann würde es gut sein! Und wenn nicht, dann könnte ich von mir sagen, dass ich es wenigstens versucht gehabt hätte. Ich sagte also zu!
Wo liegen die Schwerpunkte ihres Ministeriums im Rahmen ihrer Jahresplanung?
Mein Betätigungsbereich ist sehr wichtig und bedarf einer sorgfältigen Planung und Organisation! Das Erreichen von Grundkompetenzen steht bei allen Schülern über viele Jahre im Vordergrund. Schulen sind im hohen Masse förderungsorientiert und stark kommunal verankert. Es geht dabei vor allem um Stärkung und Verbesserung der schulischen Ausbildungsverfahren. Auch der Rechtsanspruch und der Zugang zu einer qualitativen Bildung ist erklärtes Ziel des Kultusministeriums. Die Schule ist ein Bereich, der viele Menschen engagiert, nicht nur Schulkinder und ihre Eltern. Diese Tatsache ist ein großer Ansporn für das Ministerium!
Was sind die Hauptprobleme der Schüler mit Immigrationshintergründen?
Da müssen zunächst das Alter zum Zeitpunkt der Einwanderung und die Dauer des Aufenthalts berücksichtigt werden. Unter diesem Gesichtspunkt und Schulspezifisch (Art und Standort der Schule) können Unterschiede, Schwierigkeiten und Feststellungen ausgemacht und gesehen werden. Im Allgemeinen brechen viele Immigranten, ohne nach weiteren Ausbildungswegen zu suchen, ihre Schulen vorzeitig ab. Das hat was mit der Gesellschaftseinstellung der betroffenen Kreise im Hinblick auf Schule und Bildung zu tun. Der Bildung wird wenig Wert beigemessen. Zudem fehlt es in den Schulen an Kontaktpersonen und Beratern. Des Weiteren schafft der sprachliche und kulturelle Aspekt gesellschaftliche Differenzen, die sich zuspitzen.
Welche Methoden sieht ihr Ministerium vor, um diesen Problemen entgegenzuwirken?
Zur Beseitigung einiger dieser Probleme haben wir uns 225 Millionen Kronen vom Budget eingeteilt. Wir konzentrieren uns auf die Förderung der Erlernung der Schwedischen Sprache und auf die Stärkung des muttersprachlichen Unterrichts. Das Erlernen des Schwedischen und der Muttersprache steht keinesfalls in einem Widerspruch! Sehr viele Sozialwissenschaftler sind heute der Meinung, dass die Erlernung der Muttersprache eine gute Basis ist, um andere Sprachen besser anzunehmen. Da gibt es noch einige andere Dinge, die ich mir vorgenommen habe: Verstärkte und koordinierte Zusammenarbeit zwischen Gymnasien und Universitäten, um Informationen und Ratschläge zu sammeln und weiterzugeben an Suchende. Um die Lokalpolitik in dieser Sache einzubinden, reden wir sie an, sich mit einem Budget an ihren Lokalschulen für Verbesserungsmöglichkeiten zu engagieren. So können wir die Voraussetzungen in allen Schulen schaffen, um generell den Bildungsstandart zu heben und die Möglichkeiten zu verbessern!
Was fällt ihnen spontan zu den Begriffen "Assimilation und Integration" ein?
Hier in Schweden wird sehr viel über die Integration geredet. In der Politik, am Arbeitsplatz, in der Schule und selbstverständlich in den Medien. Wenn von Integration die Rede ist, dann meint man in Wirklichkeit aber die Assimilation. So ist es nicht richtig! Ja, es gibt wichtige Normen und Vorstellungen, die eine Anpassung erfordern. Es ist kein leichter Prozess, aber wieso stellt man entweder die Assimilation oder die Integration zur Wahl? Das Beste ist der Mittelweg: Man kann in diesem Land leben, aber auch seine Sprache, Kultur und Tradition aufrechterhalten!
Abschließend wollen wir Sie um eine letzte Stellungnahme bitten. Herr Baylan, sie sind ein Beispiel, wie politische Erfolge gefeiert werden können - was wollen sie an dieser Stelle vor allem der Jugend sagen!
Schlagt den Bildungsweg ein! Nutzt die Möglichkeiten und Chancen aus, die euch angeboten werden und euren Eltern vor 40 Jahren versagt waren! Wir haben in diesen Ländern viele Möglichkeiten und Rechte, um uns zu betätigen und zu entfalten, die wir leider nicht konsequent genug wahrnehmen! Trotz vieler Fehler sind wir ein Volk, das Auswege aus dem Dilemma sucht und findet! Wir dürfen keine Berührungsängste haben. Wir machen es uns oft selbst schwer! Deshalb: Beteiligt euch an der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung eurer Aufenthaltsländer!