Qenneshrin

Stätte der Weisheit, des Glaubens und der Kultur

In Mesopotamien, zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris entstehen die ersten Hochkulturen der Geschichte. Hier baut der Mensch die ersten Städte, entwickelt die Schrift, regelt das gesellschaftliche Leben und meißelt die ersten Gesetze auf Stein. Hier blicken die Söhne des Menschen zum Himmel hinauf und verfolgen den Verlauf der Gestirne und erliegen der Faszination von Raum und Zeit. Hier wurden die ersten Bibliotheken angelegt, wo das Wissen archiviert, aufbewahrt und einem lexikographischen System entsprechend geordnet wurde.

Die Metropole Babylon galt seinerzeit als wissenschaftliches Zentrum. Diese Wiege der Religion, Philosophie, Astronomie, Medizin, Kunst und Literatur zog viele der damaligen intellektuellen Elite aus allen Regionen unserer Welt an und prägte ihre Vorstellungen und Werke nachhaltig. In derselben Tradition standen später Alexandrien und Rom.

Mit der Verbreitung des Christentums entstanden vor allem im 3. Jh. nach Chr. im Mittleren Osten die ersten christlichen Universitäten und Schulen. In Antiochien, Edessa, Alexandrien, Gundhishapur, Tell Adda und Nisibis entstanden Hochschulen nach dem Muster jener tradierten Gelehrteninstitutionen aus der Antiken Zeit Mesopotamiens und Ägyptens. In diesen Institutionen fanden theologische, philosophische und spirituelle Auseinandersetzungen und Diskussionen statt. Berühmt waren diese Einrichtungen auch für ihre Übersetzungskünste: Es wurden griechische Werke von der Bibel, den Schriften der Kirchenvätern bis hin zu Werken der antiken Literatur, etwa Abhandlungen über Geographie, Medizin, Astronomie, Geschichte und Mathematik, ins Aramäische übersetzt.

Besonders in Edessa (Urhoy) und später in Nisibis (auch bekannt als "persische Schulen", da sie Interessierte aus der ganzen Region anzogen) besaß das Patriarchat der Syrischen Kirche von Antiochien höhere Stätten der Wissenschaft und Theologie, die eine hohe Reputation hatten. Ein Arzt, der der Alten Apostolischen Kirche des Ostens angehört kommentierte die Schließung der Universität von Edessa (Urhoy) im Jahre 489 mit folgender Bemerkung: "In Edessa wurde es dunkel, während Nisibis zu erstrahlen begann" Aus ihnen gingen große Gelehrten und Wissenschaftler hervor, die bekannte Schriften verfasst, Manuskripte übersetzt und wichtige Studien betrieben haben. Heute bereichern ihre Werke die wichtigsten Bibliotheken. Aus diesen beiden Schulen gingen neue Schul- und Klostergründungen hervor, so dass ein weites Netz von Bildungseinrichtungen und spirituellen Zentren entstand.

Aus diesen Universitäten und Schulen gingen u.a. der hl. Efrem der Syrer (373), Diodorus von Tarsus (gest. 394), Theo­dor von Mopsuestia (350-428), Johannes von An­tio­chia (gest. 433), Bischof Rabbula (412-435), Ibas von Edessa (gest. 457), Theodoret von Cyrrhus (393-466), Narsai (gest. 503), File­xi­nos von Mabbug (gest. 523) und Severus (von 512-18 Patri­arch, gest. 538 in Ägypten), der hl. Jakob von Sarug (523), der Katholikos Mar Abba (540-552) und Isaak von Niniveh (7. Jh.) hervor.

Besonders nach dem Aufkommen und der raschen Verbreitung des Islams im Mittleren Osten, das das allmähliche Verschwinden und die Auflösung der bekannten großen Universitäten zur Folge hatte, wurden die Klöster zu Zentren der intellektuellen Elite. Zu den bekanntesten Klöstern, deren Zahl in die Hunderte geht, gehört das Kloster von Qenneshrin am Euphrat.

Das Kloster Qenneshrin

Das Kloster Qenneshrin, dessen Name "Adlerhorste" bedeutet, lag am Ostufer des Euphrats, nahe der Stadt Hierapolis (Jarablus) und wurde in der ersten Hälfte des 6. Jh.s von Juhanun Bar Aphtonia (gest. 537) zu Ehren des Apostel Thomas gegründet. Geboren wurde Juhanun in Edessa. Als vorstehender Mönch des Klosters St. Thomas, in Seleukia am Orontos nahm er 531 am Religionsgespräch in Konstantinopel teil.

Verschiedenen Quellen zufolge geht die Klostergründung auf ein bestimmtes Ereignis der Kirchengeschichte zurück: Jene syrisch-orthodoxe Mönche und Gelehrte, die sich weigerten, die Beschlüsse des Konzils von Chalkedon anzuerkennen, wurden vertrieben. Wohl um das Jahr 530 siedelten sich diese Mönche, die Juhanun Bar Aphtonia zu ihren Abt wählten, am Euphrat an und errichteten das Kloster. In den Überlieferungen heißt es, dass in der Umgebung mehr als 370 Klöster existierten.

Der arabische Geograph Yaqut beschreibt die Stelle, an dem das Kloster stand, gegenüber von Jerabis (=Jerablus), ungefähr 25 km von Mabbug (=Menbij) und 45 km von Serugh (=Suruc) entfernt. Das Kloster errang sehr schnell ein hohes Ansehen. Angaben aus anderen Quellen zufolge, unterstütze die syrisch stämmige byzantinische Königin Theodora mit finanziellen Mitteln die Entwicklung des Klosters.

Viele bedeutende Gelehrte, Rechtswissenschaftler, Historiker und Autoren geistlicher Werke standen in Verbindung mit diesem Kloster, das zum wichtigsten Zentrum für griechische und biblische Studien wurde und die Philosophie des Aristoteles verteidigte und lehrte. Thomas von Harkel, verantwortlich für die Überarbeitung des syrischen Neuen Testaments, die als "Harkenlensis" bekannt ist, studierte hier Griechisch, ebenso der Patriarch Athanasius II (gest. 687) und Jakub von Edessa (gest. 708). Einer ihrer berühmtesten Dozenten war der große Philosoph Severus Sebocht (gest. 667). Jakub von Edessa gehörte zu jenen Schülern Qenneshrins, die Sebocht selbst in die Philosophie, Bibelwissenschaft und in verschiedene Sprachen eingeführt hatte.

Mehrere Patriarchen und Bischöfe waren vom 7. bis zum 9. Jh. Mönche dieses Klosters. Neben dem schon erwähnten Patriarchen Athanasius II, ist auch Patriarch Julian (gest. 707/708) in Qenneshrin in die Geheimnisse der Wissenschaft und Theologie ausgebildet worden. Der berühmteste aller Mönche des Klosters aber war der Historiker und spätere Patriarch Dionysios I. von Tel Mahre (gest. 845), dessen nicht mehr erhaltene Werke der Weltchronik des Zeitraumes 582 - 842 dem Patriarchen und Universalgelehrten Michael der Grosse als Quellen seiner Chroniken und Schriften dienten.

Qenneshrin war bis zum 9. Jahrhundert weit über ihre Grenzen hinaus bekannt und das produktivste wissenschaftliche und geistige Zentrum des syrischen Christentums gewesen. Das Kloster wurde im Jahre 822 von Rebellen geplündert und niedergebrannt. Viele Werke und Kostbarkeiten, die in den Archiven und Bibliotheken lagerten, gingen im Feuer unter.

Damals, so die Quellen unserer Erkenntnisse, ging auch die "prächtige Kirche, mit der sich keine messen konnte", in Flammen auf, ebenso eine andere Kirche, die St. Thomas geweiht war und etwas oberhalb in der Felswand lag. Dionysios gelang es auch, eine schriftliche Erlaubnis zum Wiederaufbau des Klosters zu erhalten. Nach dem Wiederaufbau aber scheint das Kloster seine Wichtigkeit nicht mehr zurückgewonnen zu haben, obwohl es bis zum 13. Jh. fortbestand.

Schlägt man in einem Duden oder Wörterbuch den Begriff "Bildung" nach, so würden in einer expliziteren Erklärung die Worte "innere Formung bzw. geistige Entfaltung des Menschen" vorkommen. Die theologischen und wissenschaftlichen Einrichtungen unseres Volkes richteten sich nach dieser Präambel. Mit einem Glaube so groß wie ein Berg und mit der Hoffnung, dem Streben und der Erkenntnis im Hinblick auf die Antworten nach den Fragen des Lebens, haben diese Stätten die kulturellen Werte von Umwelt und Vergangenheit vermittelt.

Jene, die sich dieses Wissen aneignen konnten hatten drei Ausprägungen, die in ihrer Persönlichkeit und in ihren profanen Werken und Schriften festgehalten wurden: geistige Entfaltung, Erziehung und Unterricht sowie das Ergebnis. Und an diesen charakterstarken Persönlichkeiten mangelt es nicht gerade in unserer Geschichte. Qenneshrin beherbergte zu seinen goldenen Zeiten mehr als 300 Mönche. Aus diesem Kloster traten 7 Patriarchen und 15 Bischöfe der Syrisch orthodoxen Kirche hervor.

In der Tradition der Erziehung, Bildung, Weisheit und Wissenschaft des Klosters Qenneshrin stehen auch die späteren goldenen Harfen der Syrisch orthodoxen Kirche von Antiochien: Der Universalgelehrte Gregorius Bar Hebreus und der Patriarch Michael der Grosse. Mit dem Tod des Bar Hebreus endete auch die goldene Renaissancezeit. Jahrhunderte lange Dunkelheit brach über die Klöster und Kirchen in Mesopotamien ein.

Von den vielen Tausenden Klöstern und Lehreinrichtungen stehen heute nur noch wenige wie Mar Matay, Deyrul Zafaran, Mar Gabriel, Mar Markus, Mar Rabban Hormizd, Mar Musa, Deir el-Suryan, (...). Dennoch sind an vielen Orten erhaltene architektonische Überreste zu sehen. Die "toten Stätten" zeugen von der goldenen Vergangenheit. Qenneshrin ist eine dieser Kronen. Nicht zuletzt deshalb wird der vorliegenden Publikation dieser Name gewidmet.