In Södertälje nehmen Fußballer Rache für den Fall Ninives

Der schwedische Erstligaklub Assyriska ist gleichzeitig auch die Fußball-Nationalmannschaft einer in alle Welt verstreuten Volksgruppe

HANNES GAMILLSCHEG (STOCKHOLM)

Der Spieltag beginnt für Melek Bisso in der Kirche. "Jeden Sonntag", sagt der 50-Jährige, "so haben wir es von unseren Vorvätern gelernt". Doch er kann nicht verhindern, dass während der Predigt seine Gedanken abschweifen, zum Fußballspiel am Nachmittag. Nach dem Gottesdienst, beim Kirchenkaffee, kommen dann all die anderen Männer zu ihm, "Melek", fragen sie, "wie werden wir heute spielen?" "Wir werden kämpfen", verspricht dieser, und die anderen nicken. Melek Bisso ist Teamchef von "Assyriska FF". Das ist ein kleiner Erstligaklub aus der schwedischen Industriestadt Södertälje, doch für die Kirchgänger ist er mehr als ein Lokalverein. Er ist ein Stück Heimat, verlorene Heimat.


Das Erbe des Zweistromlandes

"Assyriska" wurde 1971 von einer Gruppe Flüchtlinge aus dem Nahen Osten gegründet. Sie sind Assyrer, eine überwiegend christliche Volksgruppe aus einem untergegangenen Land, das einst Mesopotamien hieß, das "Zweistromland" zwischen Euphrat und Tigris. Sie kommen aus Nordirak, aus Syrien, aus der Türkei und nennen sich auch Syrianer, Aramäer oder Chaldäer. 612 vor Christus, als Ninive fiel, haben die Assyrer ihr Reich verloren und seither in ständiger Unterdrückung gelebt: durch Babylonier und Perser, Griechen und Römer, durch Araber, Mongolen, Türken, Iraker. Heute leben Hunderttausende Assyrer verstreut über alle Kontinente, 30 000 davon in Schweden. In Södertälje haben sie ein Stück ihrer Identität zurückbekommen. "Assyriska ist für die Assyrer aus aller Welt eine Art Nationalteam geworden", sagt Bisso stolz.

Jetzt spielt der Klub in "Allsvenskan", der ersten schwedischen Liga, und so hoch ist noch nirgends in Europa ein Einwandererklub geklettert. "Ich habe immer daran geglaubt", sagt Bisso, der dabei war, seit er 1976 nach Schweden zog. 22 war er damals, lebte in Midyat in der südöstlichen Türkei und suchte wie so viele aus seiner Generation ein besseres Leben fern der Heimat. Der Lastwagenhersteller Scania in Södertälje brauchte Arbeitskraft. Bisso reiste. Seine Freizeit gehörte dem Fußball, als Spieler erst, nicht sehr erfolgreich, dann als Zeugwart, nun als Mannschaftsverantwortlicher seit schon 20 Jahren, ehrenamtlich, versteht sich. Die erste Saison im schwedischen Ligabetrieb endete für Assyriska mit null Punkten und 11:101 Toren. "Doch ich wusste, wir würden nach oben kommen", sagt Bisso, "wir hatten etwas, das die anderen nicht hatten." Denn schon als sie noch in der vierten und fünften Liga kickten und ihre schwedischen Gegner ansahen, "da merkten wir, dass sie nach einem Sieg nicht so froh waren wie wir, wenn wir gewannen. Und wenn sie verloren, wunderten wir uns: warum sind sie nicht traurig? Wenn wir verlieren, dann weinen wir."

Er hat geweint und mit dem Schicksal gehadert, als Assyriska im November letzten Jahres um den Aufstieg in Allsvenskan spielte. Dritter in der zweiten Division war man geworden, was ein Playoff gegen den Drittletzten der ersten Liga auslöste: Örgryte aus Göteborg. Ein 2:1-Sieg daheim im winzigen Bårsta-Sportpark, 0:0 nach 90 Minuten in Göteborg. Der Aufstieg war nahe, aus ganz Europa waren Assyrer angereist, um ihre Mannschaft anzufeuern, übertragen wurde das Spiel bis nach Australien. In der Nachspielzeit lenkte ein Assyriska-Verteidiger den Ball ins eigene Tor ab. 0:1. Aus.

Doch es war nicht aus. Wenige Tage später wurde der hoch verschuldete Provinzklub Örebro aus der Erstliga geworfen, Assyriska solle nachrücken, beschloss der Verband. Örebro protestierte, die Nerven lagen blank in diesen Wochen in Södertälje. Bis zur Nachricht: Assyriska war "allsvensk".

Den schwarzen Anzug des Kirchgangs trägt Melek Bisso auch auf dem Sportplatz. "Früher kam ich in Trainingskluft", erinnert er sich. Doch seit Assyrer aus Deutschland, Holland, der Schweiz, ja selbst aus Australien und den USA zu den Spielen kommen, will er den Gästen standesgemäß entgegentreten. Erstligawürdig ist die Bårsta-Arena kaum, für die Spiele gegen die Spitzenklubs zwang der Verband den Neuling ins 30 km entfernte Råsunda-Stadion in Stockholm. Das kostet Assyriska den Heimvorteil: die ersten Spiele dort gingen vor stimmungsloser Kulisse verloren.

Daheim hingegen, in Bårsta, herrscht eine Stimmung wie zwischen Jahrmarkt und Familienfest. 6500 Zuschauer fasst die Arena, und wer keinen Platz bekommt, kann von den Balkons der Wohnblöcke auf dem Strängnäs-Weg oder vom Straßenrand aus über die Mauer gucken. Drinnen im Stadion schieben Mütter ihre Kinderwagen durch die Zuschauerreihen, "so viele Frauen, alte Männer mit Stock, Jungs und Mädels sieht man sonst in keiner Spitzensportarena", wunderte sich die Zeitung Dagens Nyheter beim Allsvenska-Debut. Nur Meleks Mutter Ismuni kommt nicht mehr. Zu aufregend. "Ich hab ihr gezeigt, wie man Teletext benützt. Da sitzt sie auf dem Balkon und liest mit."


Ein Ball verbindet die Assyrer

So wie sie sitzen Assyrer in aller Welt an Computern und TV-Geräten und fiebern mit. Der Kanal Qolo überträgt im Webradio, und zeitversetzt werden die Spiele von einem französischen Satelliten in 82 Länder ausgestrahlt. "Ein Ball verbindet uns von Australien bis Russland, von Norwegen bis Südafrika", huldigte ein in Kalifornien erscheinendes Exilmagazin die "Löwen von Assyriska". "Wir sind stolz, eure Bewunderer zu sein." Die Bewahrung von Kultur und Geschichtsbewusstsein zählt laut Satzungen zu den Zielen des Vereins, von (alkoholfreien) Festen für die Jugend reicht das Begleitprogramm bis zu Reisen nach Bethnahrin, wie die Assyrer die Stätte ihrer Vorfahren nennen.

Dem Schwedischen Fußballverband war der Heimatkult allerdings zu viel, als der Klub seine Heimpremiere mit einer Schweigeminute zum "Jahr des Schwertes" einleitete: dem Gedenken an den Völkermord an Armeniern und Assyriern vor 90 Jahren. Politische Manifestationen hätten in einer Sportarena nichts zu suchen, rüffelte Verbandspräsident Lars-Åke Lagrell.

Doch Assyriska ist mehr als der Sammelpunkt einer verfolgten Volksgruppe. Wie ein Fan namens Ashur im Internetforum schrieb: "Nirgends in Schweden findet man ein besseres Abbild der heutigen schwedischen Gesellschaft als Assyriska FF. Die Mannschaft besteht aus verschiedenen Nationalitäten, und im Stadion freue ich mich, wie viele einheimische Schweden AFF zujubeln." Integration mit dem Fußball. "Assyriska ist ein Dorn im Auge für die, die ein geteiltes Schweden wünschen."

Assyriska als Multikulti-Klub: zwar sind die Leute hinter den Kulissen fast allesamt Assyrer - im Kader der ersten Mannschaft aber gibt es neben acht Spielern mit assyrischen Wurzeln auch griechisch- und jugoslawischstämmige Schweden, Spieler aus Lettland, Irak, Ghana und Sierra Leone. Und "Urschweden" wie Torhüter Erland Hellström, Sohn des in nicht nur in Kaiserslautern legendären Ronnie. Dennoch: für Assyriska ist jedes Spiel Abstiegskampf. Sportlich belegt das Team den letzten Platz.

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